Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

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Eine Reportage von Bernd Wonde

Der Autor Stan Nadolny erzählt in seinem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ die Geschichte des Kapitäns und Polarforschers John Franklin. Ein schöner Roman, der viel über Beharrlichkeit und Verlangsamung aussagt. In Abwandlung zu diesem Roman fühlte ich mich auf einer Hausboot-Tour im Elsass.

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Die Basisstation von Locaboat in Lutzelbourg mit unserer Penichette

Als Hausboot-Käpt`n braucht man keinen Führerschein

Wir charterten eines dieser typischen Hausboote, die unter dem Begriff Penichette von einer französischen Werft speziell für den Urlaub auf den Kanälen konstruiert wurden. Der Name heißt übersetzt Lastkahn. Die Boote, die auf dem Rhein-Marne-Kanal (Canal de la Marne au Rhin) angeboten werden, können von Laien gefahren werden. Hier gilt der führerscheinfreie Kanal als ideales Revier für Enthusiasten, Einsteiger, Wiederholer oder einfach nur für Menschen, die sich für die Langsamkeit entscheiden.

Die Höchstgeschwindigkeit ist auf max. zehn km/h gedrosselt. Für eine 3-Tagestour bietet sich Lutzelbourg im Elsass an, ca. eine Autostunde von Baden-Baden entfernt. Über dem Ort thront die im Jahr 1523 zerstörte Burg und gibt den Blick frei auf den dicht bewaldeten Kanal. Mit ca. 600 Einwohnern ist der Ort überschaubar, bietet Gasthäuser und Restaurants, die noch deutsch klingende Namen an der Fassade tragen (z. B. Bierstub d’ Eselbahn).

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Am Morgen ist es noch ein bisschen neblig auf dem Kanal
Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal
Die Lutzelbourg über dem gleichnamigen Ort. Von oben hat man einen herrlichen Blick in die Weite der hügeligen Landschaft

Schön, das es das “Bügstrahlrüder” gibt

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Nach der Einweisung von Alexandre machen wir uns auf den Weg

Bei der Einweisung der Boote betreut uns Alexandre vom Vermieter Locaboat. Fachmännisch erklärt er uns mit einem Sprachmix aus französisch und deutsch die Funktionsweise des kleinen Joystick auf dem Steuerstand im Salon. „Mit diesem ‚Bügstrahlrüder’ kann man den Bug des Bootes nach rechts oder links drücken“. Aha, das haben wir jetzt verstanden. Das Kapitänshandbuch wird uns nach kurzer Einweisung ausgehändigt. Richtung Niderville fahren wir und lassen uns auf ein Abenteuer  ohne Tempo ein. Die Schleusen werden hier automatisch betrieben, d.h. bei Annäherung an eine Kammer achten wir auf die Signalzeichen.

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Erst wenn die Ampel grün zeigt geht’s in die Schleuse

Schleusen ist einfacher als gedacht

Schnell erklärt, schnell verstanden: rot heißt natürlich warten, rot-grün steht für vorbereiten auf die Öffnung der Kammer, und bei grün haben wir freie Fahrt. Das wird eng in der Schleuse. Da bleibt jetzt rechts und links nicht viel Platz. Das Schiff ist nach allen Seiten mit dicken Gummileisten gut abgefendert. Der Tiefgang des Kanals liegt hier bei ca. 1,40 Meter. Also auch nach unten ist noch ein wenig Abstand.

Wir schleusen aufwärts, gelten jetzt als Bergfahrer. Eine der beiden Stangen in der Mitte der Kammer muss betätigt werden. Bei Benutzung der blauen Stange geht ein Impuls an die hintere Schleusen-Kammertür. Träge schließt das Tor und Wasser füllt die Schleuse. Die Zahl 1865 in einem Stein der Schleusen-Mauer zeigt an, das dieser Kanal eine lange Geschichte hat. Fertiggestellt im Jahre 1853, war er bis Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts der längste Kanal Frankreichs mit etwa 315 km Länge.

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Vor dem Schiffshebewerk warten schon ein paar Boote
Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Ausfahrt aus dem Schiffshebewerk. Die Passage ist einfacher als man denkt

Nach zwei weiteren Schleusen erreichen wir jetzt das Schiffshebewerk bei Arzviller. Der Höhenunterschied beträgt ca. 45m, in früherer Zeit waren dafür siebzehn Schleusen nötig. Ein schmaler Fußweg führt noch heute an den alten Staustufen entlang. Im oberen Abschnitt erreichen wir nach kurzer Zeit den ersten von zwei Tunnel. Hier gilt die Einbahnregelung, die Ampel an der Einfahrt zum ersten Tunnel zeigt grün. Ich steuere das Boot mit dem ‚Bügstrahlrüder‘ vorsichtig in die Mitte der Tunnelöffnung.

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Einfahrt in den über zwei Kilometer langen Tunnel – zuerst hat man ein komisches Gefühl

Geschafft! Endlich Licht am Ende des Tunnels

Schwaches Licht leuchtet die Tunnelröhre auf über 2310 m Länge aus. Das Auge gewöhnt sich an die Dunkelheit, die Fahrrinne voraus verengt sich scheinbar immer mehr. Wie lang können 2310 m sein? Doch doch, hier kommen wir durch, beruhige ich mich.

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Licht am Ende des Tunnels. Die Durchfahrt ist eine Herausforderung an Konzentration und ruhiges Steuern

Aufatmen am Ende des Tunnels. Parallel zum Kanal verläuft ab hier eine Bahnstrecke. Es kommt vor, das der Hochgeschwindigkeitszug TGV auf die Entschleuniger mit ihren Hausbooten trifft, rasante Fahrt triff smarte Fahrt. Nach einem weiteren Tunnel (ca. 400 m Länge) erreichen wir den kleinen Ort Niderviller und machen Halt. Mit dem Taxi geht es nach Sarrebourg, eine französische Gemeinde mit ca. 12 000 Einwohnern. Im Zentrum der Stadt steht die Chapelle des Cordeliers.

Ausflug zu den Buntglasfenstern von Marc Chagall

Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Das monumentale Buntglasfenster der Kapelle ist beeindruckend
Hausboot-Tour auf dem Canal de la Marne au Rhin (Rhein-Marne-Kanal Foto: © Bernd Wonde
Blick aus dem Fenster am Morgen. Wir haben keine Eile, weil die Schleusen erst um neun Uhr öffnen

Der Künstler Marc Chagall wurde 1970 damit beauftragt, die Außenwand der Kapelle mit einem Buntglasfenster zu gestalten. Die Arbeiten dauerten ca. 6 Jahre. Das monumentale Fenster „La Paix“ misst 12 Meter in der Höhe und 7,5 Meter in der Breite. Die ganze Pracht und Vielfalt des expressionistischen Werks erscheint besonders intensiv, wenn die Sonne von außen auf die Fassade strahlt. Die Feinheiten des Fensters erschließen sich dem Betrachter erst bei genauerem Hinsehen.

Wir genießen die erste Übernachtung an Bord. Kein Laut dringt von außen nach innen, denn es gibt  kein Laut da draußen! Die Nacht ist still und schwarz und ohne jedes Geräusch. Die Langsamkeit erfasst uns am nächsten Morgen. Eile ist nicht angesagt, da die Schleuse erst um neun Uhr morgens öffnet. Die Uhren gehen im Urlaub bekanntlich anders, was erstens nicht stimmt aber zweites vielleicht doch darauf zurück zuführen ist, das ich die Wiederentdeckung der Langsamkeit durchlebe. Danke Stan.

 

Fotos: copyright Bernd Wonde (Augenklick)

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

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3 Gedanken zu „Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

  • 7. Oktober 2017 um 16:55 Uhr
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    Ich kenne das Buch und mag es besonders, wenn der stressige Alltag mich einholt. Eine schöne bildliche Umsetzung des Themas über Entschleunigung und die Fähigkeit, kleine Dinge des Alltags aufmerksamer zu beobachten. Danke für die Erinnerung

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    • 11. Oktober 2017 um 20:21 Uhr
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      Hallo Alex und Danke für den Kommentar. Schön, wenn rs gelingt auch bei anderen Erinnerungen wach zu rufen

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  • 11. August 2019 um 17:53 Uhr
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    Liebe Autoren, sehr schöner Bericht. Mich würde noch interessieren wie man sich an der Schleuse anmeldet, ist da eine Stange zu ziehen oder zu drehen????

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